der infant 01/1 · Zeitschrift für moderne, aktuelle Gegenwartskunst · Textbeiträge

der infant
Zeitschrift für moderne, aktuelle Gegenwartskunst

ISSN-Nr.: 1433-5492

Herausgeber:
dada-schriftenreihe · Herdeichen 11
75334 Straubenhardt · Tel./Fax: 0 70 82 - 41 53 09

Redaktion: A. M. Kunz, B. E. Gall
Erscheinungsweise: 2-3 Ausgaben/Jahr
Auflage: 2000

Verlagsort: Pforzheim

Gestaltung: dada-design; Umschlag: gall

Fotonachweis: dada-design, Pforzheim
© Fotos: Bernd Erich Gall u. VG Bild-Kunst, Bonn

Lithos und Druck: Alpha-Druckh., Pforzheim

Namentlich gekennzeichnete Artikel sind nicht als Meinungsäußerungen der Redaktion anzusehen. Für unverlangt eingesandte Ma-nuskripte übernehmen wir keine Gewähr. Die Redaktion behält sich grundsätzlich vor, Manuskripte zu kürzen.



Discovery Channel · Click Here To Disappear Completely

Von Bernd Erich Gall

USA-Aufenthalt, Sommer 2000. Videobänder werden mit endlosen Stadt- und Straßenszenen bespielt. Aus der Bildbewegung heraus etablieren sich Auflösungsmomente, die für ein punktuelles Verschwinden personenbezogener Inhalte sorgen. Daraus resultiert eine Art Neuordnung von Raum/Ort und Zeit, Subjekt und Objekt, die als Bildsprache sichtbar wird. Alltagsorte transformieren zum Discovery Channel, Blickrichtun-gen spielen keine Rolle mehr, die ständige Verfügbarkeit (Instant Access) der Abwesenheit wird zur Bedingung.

Der Oberflächenreiz medialer Welten entwickelt sich immer mehr zum Gegenspieler tradierter Vorstellungen gesellschaftlicher Strukturen. Die sequentielle Linearität und operationalisierte Kodierung der Bubblegum-Bilder ersetzen normativ überzogene, unrealistische Denkansätze inhaltsreicher Gesellschaftsformen.
Das Nichtregelbare, die Nichtordnung, das Unbestimmbare und Chaotische haben den Siegeszug angetreten. Sie entledigen sich dem Reservoir ethischer, moralischer Denkplätze/-orte. An deren Stelle etablieren sich »non-places« (Innenstädte, Shopping Malls, Internet usw.), die sich als moderne Transiträume ohne eigene Prägung outen. Distinktion, Mobilität und Migration sind deren Parameter, und sie finden sich überall und nirgends zugleich. Als franchising-places popindustrieller Unterhaltungswelten erhalten sie ihre Lizensierung über eine konstruierte Globalität, die sich selbst als opakes, unzugängliches, unbestimmbares Nichts präsentiert, und sich damit unangreifbar und verführerisch ins Geschehen mischt.

Der Verlust an Individualität öffnet und vereint. Die Imagination »Ort« verliert ihre Koordinaten und wird zur Unbekannten (Domain, Web-Hosting) innerhalb einer Weltwirtschafts-/Gesellschaftsgleichung, die die Domestikation des Konsumenten nummerisch dokumentiert. Mensch, Haus und Hof werden faktisch, berechen- und bestimmbar, gleich dem Reservoir einer Kundenkartei. Jene operationalisierte Kodierung beinhaltet jedoch die Möglichkeit, sich als Variable/Unbekannte einzubringen, um für »Lösungsformen« im Spiel zu bleiben. Ebenso gelingt es, sich als Lösungsmenge aus dem Geschehen zu nehmen, abzutauchen, sich in »Ungleichung« zu begeben, in »Leeren Men-gen« zu verschwinden. Das Gefühl für Ort- und Körpergrenzen wird dabei vernachlässigt. Der Mensch transformiert zum apokalyptischen Reiter. Um ihn als Kunden nicht ganz zu verlieren, behandelt ihn die Konsumlandschaft als kollektiven Rezipienten innerhalb einer ortlosen Massenkultur.

»Kultur und Masse« verlangen nach Dramen, Shows, Inszenierungen. Der Ort wird zum Container (Big Brother), zur ausgebrannten Marslandschaft, zur Arena einer Unterhaltungs-gesellschaft. Tons of free pictures suggerieren der hotchpotch-Gemeinde den kollektiven Traum einer göttlichen Gemeinschaft, eines Showortes, einer Pleasantville (Truman Show). Der Menschenort erhebt sich zur Skulptur, zur Massenskulptur, zum Hochaltar. Die Sprache eines Ortes, seine Individualität, seine Bewegt-heit entschwinden als casuale Erscheinungen der Wahrnehmung. Der klinisch reine Ort ist der inszenierte Ort. Dessen manipulierte Einheit von Zeit, Ort und Handlung erlangt gesellschaftliche Relevanz: Er wird zitiert, immer wieder, wird digitalisiert, wird bearbeitbar und für jeden (jederzeit) zugänglich (Instant Access). Die binär kodierte Brille liefert einen Rekreationsort (potemkinisches Dorf), der alle belassenen Orte um Weiten schlägt, sie überflüssig macht, ihnen die Show stiehlt, sie ins Abseits drängt.

Orte des Verschwindens, ja Orte, die sich selbst in sich auflösen verbinden sich mit der Seinsgewissheit apokalyptischer Film-, Theater- und Literaturhelden. Das gemeinsame Ziel: Auflösung der Körpergrenzen, d.h. sich aus dem Bild bewegen, als anthropomorphes (bzw. xenomorphes), durchscheinendes, unzugängliches Etwas. Nicht selten wird der Vorgang des »to disappear« instrumentalisiert und als Bestrafung (»We reserve the right to kick you off the stage if you suck«) oder Belohnung mit ins Spiel gebracht. Im medialen clash of pictures entsteht ein Defizit an elegischer Präsenz. Die Bilder-sehnsucht wirft den Betrachter aus seiner Rolle, zieht ihn hinüber ins Bild und macht ihn dadurch selbst zum Objekt seiner Betrachtung. Die Folge ist eine ungewollte, kollektive Selbstbetrach-tung, bei der das »Bild-Ich« zur zweiten Persönlichkeit, zum »Über-Ich«, zum multiplen Protagonisten transformiert. »Click here to disappear completely«, rufen die Bilder aus den screens, und schon eröffnen sich dem Rezipienten neue Welten, Begegnungen, Geheimnisse, Rätsel, Abenteuer. Animation legt sich um die Bilder, der Betrachter verlässt seine Position und wird zum Helden - fällt von einer Bildebene in die andere. Wie ein Sog zieht es ihn in den Strudel aus Raum und Zeit, und alle Türen offen: Vacancy. Und schon ruft die nächste Ebene: »Thumps!«

Das Begehrungsvermögen nach Entschwinden mobilisiert die menschliche Einbildungskraft und enthebt sie aller vernunfttreuen Erkenntnistheo-rien (sinnliche Erfahrung n. Kant). Die Begehung der Sinne entpuppt sich als das Befahren einer unendlichen Straße, deren Richtung, Fix- und Zielpunkte reine Hilfskonstruktionen darstellen. Eine Straße steht für Bewegung, sie lässt sich nicht (telemetrisch) markieren, und noch weniger definieren - nur durch sich selbst. Und am Ende zeigt sich ein Art roadmovie, dessen Bewegungsprinzip den Schlüssel zur »Selbst-Auf-Lösung« liefert. Aus dem Bewegungsprinzip (Dislokation/Akzeleration) heraus erfährt der Mensch eine Ahnung von Körperlosigkeit und träumt dabei den Traum vom Entschwinden in eine andere (unendlich weit entfernte) Welt. Neuzeitliche Medien haben dies erkannt und bedienen den Markt. Sie werden zum Sammelbecken von Überläufern, denen es in der alten, habituellen Welt nicht mehr gefällt. Die Inklination zu virtuellen, fabulösen Erlebnisräumen ist der Motor. Die medialen Räume füllen sich mit menschlichen Leerfor-men/-formeln, die schließlich im produktiven Nichts enden. In den alten, habituellen Welten tun sich dagegen leerge(t)räumte Stellen auf, die sich, wenn sie offengehalten werden, als Spielwiesen neuer Identitäten erweisen. »Die Lichtung ist das Offene für alles An- und Abwesende ... (Heidegger).«

Foothill, 2000 · Video, 61 min: »Hat da jemand was gesagt? - Foothill? - Ja, hab verstanden.« »War das nicht drüben beim Venice Beach?« Franz setzt sich ans Fenster. Sein Zeigefinger pocht gegen Glas: Tock, tock, tock. Er atmet ruhig. Es beginnt zu regnen. Das Fenster ist mit feinen, silbernen Perlen überzogen, die immer wieder ihre Bahnen nach unten ziehen.
Seine Augen sind trocken und leer. Tock, tock, tock, das Fensterglas wird zum Spiegel. Alt und verbraucht klebt ein Bild auf Glas, und er sieht wie immer - so gut es geht - hindurch.
»Was hab ich getan?« Keine Antwort. »Dort drüben erwartet mich der, der keine Schmerzen kennt. Dort, siehst du ihn? Ja, der, der keine Schmerzen kennt.« »Er sieht aus, wie dein Sohn, so jung und unbeschreiblich aufgeweckt.«
»Wie recht du hast.« Franz nimmt einen Schluck aus der Tasse und lächelt sich zu: »Du bist schon ein verrückter Kerl. Hast es einfach so geschafft, einfach so, als ob das immer so gewesen wäre. Bist eben ein Mordskerl, bin stolz auf dich. - Und sag mal, du kannst wirklich durch Rehe hindurchgehen, ja? Verrückt, irgendwie verrückt.«
Heute ist Donnerstag und donnerstags geht Franz ins Kino. Oben am Hollywood Boulevard. Seine Augen sind trocken und es ist an der Zeit, sich auf den Weg zu machen. Am Sonntag nach Pasadena (Foothill), am Montag Santa Barbara. »Ich bin soweit«, flüstert er, »ja, gehen wir, lass uns verschwinden.«

Sich von Anwesenheit zu verabschieden heißt, Orte verlassen. Sich in Bewegung setzen heißt, Orte dauerhaft verlassen, heißt dauerhaft sich aus dem Ort nehmen: Ich bewege mich, also verschwinde ich. Diese simple Formel koordinierter Abwesenheit beinhaltet das Prinzip, sich aus dem Bild zu nehmen. Für den statischen Beobachter werde ich zum Zauberer, denn der Ort leert und füllt sich für ihn aus dem Nichts. Alles, was aus dem Nichts kommt und ins Nichts geht, rückt in die Nähe der Magie bzw. Philosophie. Woher kommt alles, wohin geht alles? Die Fragen werden mitgeliefert, die Antworten fallen unter den Tisch.
Der sich Bewegende wird zum Apostat der Gegenwärtigkeit. Er perpetuiert seine »körperliche Abwesenheit« und wird somit nicht mehr »griffig«. Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn helfen dann nur noch die screens, denn sie sind die Schlupflöcher, hin zur bildlichen Anwesenheit. Mimetische Körperlichkeit taucht hier plötzlich auf und obsiegt über Körperzer-fallsdaten. »Ich« wird neu inszeniert, wird mit kurzen Halbwertszeiten belegt. Fremd- und Selbstreferenz wechseln sich stetig ab. Das Individuum wird bespielt, abgespielt, gelöscht, sichtbar im Unsichtbaren.

In Santa Monica öffnet sich der Pazifik den Plätzen, Promenaden, Straßen, Menschen- und Naturzonen. Die Begriff „Westen“ stößt hier an seine Grenzen. Er steht nicht mehr für »Öffnung, Spiel, Spannung«, vielmehr für »Ende«. »Westen« ist hier längst erreicht, und mit ihm eine Form von Abwesenheit. Auch wenn sich Plätze mit rasender Geschwindigkeit füllen, bevölkern und leeren, das clash of cultures erzeugt nur einen ungeheuren, inhaltslosen Lärm. Um so wichtiger werden Wahrnehmung und Bewegung (streetlife). Wer nicht in Bewegung bleibt, stößt gegen die »pazifische Wassersäule« und wird für immer stumm. Die Art, Form und Geschwindigkeit der Bewegung führen zu einer Verbindlichkeit der Sprache. Lange Fahrten auf den Highways verbreiten Schweigen, doch Schweigen war schon immer ein Element der Sprache, und nicht selten entsteht dort, wo geschwiegen wird, Inhalt, dort, wo gesprochen wird, lediglich Formales. Für beides ist Raum auf den Straßen und Plätzen - und Hollywood lauert auf Geschichten. Hat es eine gefunden, ist »Westen« wieder einmal erreicht, wenn nicht, gibt es noch Pasadena und Downtown L.A.: Bewegung und Sprache finden hier in allen Richtungen statt: Chinatown, City Hall, Olvera Street, Sunset/Hollywood Boule-vard, Walk of Fame, Universal Studios.
Anwesenheit im Alltag hat epigonale, mimetische Züge. Ich bin dort, wo ich mich spiele, mich in Szene setze, eine Rolle übernehme. Also produziere ich mich je nach Bedarf immer wieder auf’s Neue. Als domain public bin ich nutzbar, stehe dem und dem zur Verfügung. »Yes, I’m fake.«
Um im Spiel zu bleiben, muss ich verfügbar sein. Die Kinematik jener Inszenierung ist schwer zu verstehen. Ich gehe vorbei, an mir wird vorbeigegangen, alles bewegt sich um mich, pulsiert, überschlägt sich (irrational exuberance). Städte transgredieren zu modernen Transiträumen mit epigonalen franchising places. Dislokation, Migration, soziale Distinktion verzerren die Anwesenheit und legen den Grundstein für das Individuum, sich zu verabschieden. In der Anonymität habe ich dann Gelegenheit zur Klärung, zur Selbsterkenntnis, zur Öffnung: Vacancy. Unbesetzte Räume werden dabei zu gesellschaftlich relevanten Orten. Raum und Subjekt ergänzen sich. Sie sind die Zaubertruhen modernistischer Gesellschafts-formen. In ihnen kristallisieren, destillieren neue Denkformen, die, solange sie noch nicht domestiziert und in Transiträume entlassen sind, an Schlagkraft gewinnen. Der innere Monolog kann beginnen: »Aber der arme Kerl müsste die ganze Zeit dastehen und seine inneren Eingeweide zeigen. ... könnte Molly einen seidenen Unterrock kaufen, Farbe wie ihre neuen Strumpfbänder (James Joyce).«

Unten am Venice Beach gelingt es dem Passanten, eine paradigmatische Wirksamkeit von Abwesenheit zu erfahren. In all den Menschenmengen, die sich strandauf- und strandabwärts bewegen, entsteht eine Art Vakuum. Der Einzelne wird dort nie Teil des Ganzen. Er wird weder wahrgenommen, noch spielt er für das Gesamtbild irgend eine Rolle. In ständiger Bewegung verliert der Mensch die Verbindung zum Geschehen, wird insular. Der Westen ist erreicht, mehr Westen gibt es nicht. Das Ziel ist durchfahren, dahinter ist »Ich« niemand.
Wenn Altfreaks und Beatniks an der roadside zu Gauklern werden, sich den Touristen verschreiben, ist alles bereits gelaufen. Nichts ist mehr da, das ins Heute evakuiert werden kann. Dort am Venice Beach treffen sich jaywalker in unmittelbarer Abwesenheit. Und abwesend ist auch der Ort. Er ist ein ewiges Vexierbild, eine Fata Morgana der Westwelt, eine Replik auf die Hybris der Traumfabrik Hollywood. Nietzsches Hypothese, dass der Mensch etwas sei, das überwunden werden muss, ist hier längst überspielt. Banal und unbedeutend hat sich die rezente Transfiguration des Menschen vollzogen, er hat sich selbst leerge(t)räumt, sich gelöscht und die Fiktion favorisiert. Seine Identität ist die Differenz seiner eigenen Subtraktion: Mensch minus Mensch.

Big Sale · L.A. Discount, 2000 · Video, 61 min: Tremor, Terror, Rumor. Draußen die Sonne, drinnen die Schritte der Glücksspieler. Jeder Laut ein Hauch von Suggestion. In den Hallen Musik, ein Rasseln, ein Läuten. Das Salz unwirtlicher Wüsten kristallisiert dort am Hoover-Damm, dort in den Köpfen der Neuankömmlin-ge. Hier ist auch Westen und Death Valley hat die Tiefe des Meeres.
»Heute muss sie kommen. Alles spricht dafür. Mein Auftritt im Tropicana war nicht zu überbieten.« »Was meinst du?« »... war nicht zu überbieten. Ja, im Auto. Mein Gott, ich glaube das alles nicht.« »Du fährst ganz schön auf sie ab.« »Will ich meinen! Glaubst du, dass ihr das Hotelzimmer gefällt? Das Tropicana hat nicht gerade Klasse. Altes Gemäuer, schon etwas heruntergekommen, na ja, aber irgenwie gemütlich.« »Spielt bei ihr keine Rolle, du weißt, was ich meine, und wie du das weißt, hab ich recht?« »Darauf kannst du wetten, aber jetzt mach, dass du verschwindest, sie kann jeden Augenblick hier sein. Schlag dir die Nacht um die Ohren. Geh einfach den Boulevard hinunter und lass dich nicht vor morgen Mittag hier blicken.« Franz setzt sich in Bewegung. Am Ende des Ganges reißt jemand eine Tür auf: »Schlampe, Hure, Miststück!« - Big Sale.

Drüben in Las Vegas zeigt sich ein anderes Bild. Als Paradigma einer emphatischen, frappanten Bild-/Körper-Gemeinschaft, erträgt die Stadt alle »Konzentration an Mensch«, denn »Westen« (Ende, Ankunft, Stillstand) ist hier noch lange nicht erreicht. Bunte, lukulente Reklametafeln, Straßen, Plätze, Hotels, Spielhallen, Unterhal-tungsstätten strotzen vor Anwesenheit. Körper verdrängt Geist, Wahrnehmung ersetzt Bewusstsein. Die interpersonale Wahrnehmung nach Laig/Philipson/Lee [3 Perspektiven: (1) Mein Selbstbild, (2) mein Bild vom anderen (Fremdbild), (3) mein Bild davon, wie der andere mich sieht (Spiegelbild oder »Metaperspekti-ve«)] reduziert sich hier auf eine Sichtweise, nämlich auf die des Fremdbildes. Ich selbst bin unwichtig, wie der andere mich sieht, ist belanglos, aber die peep-show kann beginnen.
Das Massengelage am Tresen des Mammons favorisiert den Körper und all seine Accessoires: Kleidung, Schmuck, Styling. Der Augenblick produziert die Masse, das Endliche den Augenblick. Wenn das Okular der Kamera sich an Hallen und Menschenmengen vorbeibewegt, entsteht aus der Bewegung heraus eine Duplikation des Körpers (Subjekt + Subjektbild). Die Kamera bringt das Subjektbild auf materiellen Grund. Sie beweist damit die Anwesenheit eines Bildappa-rates neben dem eigentlichen Körpergesche-hen. Der »andere« quält sich samt Abbild durch die Casinowelt, wird beobachtet, dupliziert, katalogisiert. »Ich« ist die Kamera, Film und Realität füllen den Ort. In den Shows trifft dann Beobachtung auf Beobachtung, die Duplikation multipliziert sich, und alles im Überfluss. Der verführerische Gesang der Geldautomaten mischt sich unter das sanfte Gurren der Freizeitgambler, und ein Ende ist nicht abzusehen. Jetzt ist der Zeitpunkt zu verschwinden. »Ich«, in Beobachterposition, verabschiedet sich, vogelfrei und ohne böse Absicht.

Can’t Keep A Secret, 2000 · Video, 61 min: Er steigt in das Taxi und lässt sich zu einem billigen Motel am Highway 1 (Pismo Beach) fahren. Nachdem er sein Gepäck in seinem Zimmer verstaut hat, läuft er zum Strand hinunter. Ein dichter Nebel liegt über dem Pazifik, der Strand ist wie leergefegt, Möwen kreisen im Wind. Er setzt sich auf eine Bank und holt tief Luft: »Drei Personen verließen gestern morgen die Stadt, und eine ist angekommen, wie gesagt, drei Personen, drei. Las Vegas war eine Art Ortsgespräch, lang und billig, jedoch deutlich zu verstehen.«
Ob er das Geheimnis bei sich behalten kann, hängt davon ab, ob die beiden gefunden werden. Werden sie gefunden, entsteht eine Geschichte, dort zwischen Palm Springs und San Bernadino, und ein Geheimnis geht verloren. Werden sie nicht gefunden, geht alles seinen Gang. Eigentlich ist ihm das gleich. Das Meer bewegt sich, der Horizont fällt in dichte Nebel. Möwen kreisen, ein Kind auf einer Schaukel. Was ihn selbst betrifft, hat er sowas wie einen Plan. Ein paar Tage am Meer und dann in Frisco untertauchen. Das Geld gehört ihm jetzt ganz allein.

Die Konsequenz der Verabschiedung in die Abwesenheit ist die Einsamkeit. »Ich« befindet sich außerhalb des Geschehens, wird nicht mehr beachtet: »And as things fell apart / Nobody paid much attention« (Talking Heads). Als outcast schleicht »Ich« um »Du« und vermeidet das »Wir«. In der Großstadt produziert sich diese Erfahrung tagtäglich im Kleinen: Ich sitze an einer Haltestelle und warte auf den Bus. Ich beobachte die Wartenden um mich herum. Ein Penner liegt betrunken auf einer anderen Bank. Despektierliche Seitenblicke der Warten-den erfüllen mich mit Neugier. Ich beobachte und vergesse. Der Bus fährt ohne mich los, ich beobachte noch immer. In beschriebener Situation werde ich als potentieller Fahrgast nicht wahrgenommen. Die Umherstehenden und der Busfahrer registrieren mich als Wartenden. Ich gehöre zur gleichen Kategorie wie der Penner (Mensch auf Bank, bewegungslos, paralysiert). In der Versunkenheit meiner Betrachtung falle ich aus dem Geschehen und verliere den Bezug zum System: Warten · Einsteigen · Losfahren · Ankommen · Aussteigen · Gehen. Der Bewegungsapparat hat mich ausgestoßen, ich werde vakant, falle durch das Raster. Eine Alltagssituation wird für mich zum Discovery Channel. Ich lebe eine Geschichte, in der Raum und Zeit keine nummerische Funktion besitzen, alles ist vertauschbar, erträumbar, widerrufbar. Je mehr ich mich der Betrachtung zuwende, um so mehr verschwinde ich, werde ort- und zeitlos. Als outcast und homeless beziehe ich mich auf Orte der Ruhe, schlage mich durch meine Träume und verliere jegliches Ziel. Keine Sprache ruft mich zurück, ich spreche nicht, ich verstehe nicht, bin wort- und gehörlos.

Blaue Sprünge aus tiefem Turm: Frisco hat ihn wieder. Korn zieht Cary wie ein kleines Schulmädchen hinter sich her. An der Kearny Street gehen sie in ein chinesisches Restaurant. Der Raum ist voller gähnender, schmatzender Asiaten. Die Chefin des Hauses begrüßt beide mit einem höflichen Kopfnicken. Es ist der übliche Tisch. »Du spinnst ja.« »Ist er nun in dich verliebt oder nicht?« »Das geht dich nichts an.« »Damit hast du die Frage ja beantwortet.« »Jetzt werd‘ bloß nicht komisch.« »Ich weiß, dass er hinter dir her ist.« »Hinter mir her - wie sich das anhört.« »So wie ich es sagte. Der Typ hat doch eine Sprung in der Schüssel, merkst du das denn nicht?« »Und du, du etwa nicht? - Lass mich bloß zufrieden, ich hatte heute bereits genug Ärger. Appetit hab ich auch keinen mehr.« »Ich bin immer noch dein Ehemann.« »Ehemann! Das Wort hör’ ich selten von dir.« »Da wird es Zeit« »Also gut, ich verschwinde. Ich hab die Nase voll. Du gehst mir eindeutig auf die Nerven.« »Du bleibst hier, wir sind noch lange nicht am Ende.« Korn weiß, warum er immer in dieses Restaurant geht. Die meisten hier sprechen nicht seine Sprache, und wenn, dann nur ein paar Brocken. Aber heute ist ihm alles gleich. Er darf sich das nicht gefallen lassen. »Was hast du? Du siehst so blass aus.« »So eine blöde Frage. Und außerdem, was war denn das mit der Blonden bei Harry?« »Mit der Blonden? Ach so, die Blonde. Die wollte nur meine Adresse, wegen der Sache mit Richie.« »So,so.« »Versuch ja nicht abzulenken, ich bin noch lange nicht fertig mit dir.« »Aber ich mit dir!« Cary macht eine ruckartige Bewegung, steht auf und verlässt das Restaurant. Korn schaut ihr wutentbrannt nach, ruft die Chefin und bestellt.
Drüben in der Ecke sitzt eine männliche Gestalt, die leise vor sich hinsummt. Sie gehört schon seit Jahren zu den Stammgästen. Und weil das so ist, nimmt sie niemand mehr wahr, weder Korn, noch die übrigen Gäste. Aber früher einmal, war sie ein ganz normaler Gast, ein Gast der aufallend viel Trinkgeld gab.

In der künstlerischen Auseinandersetzung ist die Ablösung vom Gesellschaftsprozess des »Miteinander« eine wichtige Ausgangsgrundla-ge. Leinwand, Screen, Raum und Konzept positionieren Sichtweisen, die nicht in simplen Subjekt-Objekt-Beziehungen enden dürfen. Sehen, Wahrnehmen, Träumen sind Einstiegs-orte somnambuler Gangweisen: »Ich träume, dass ich träume, dass ich sehe. Ich fühle, dass ich träume, dass ich fühle.« Beide Sentenzen unterstreichen Wahrnehmungsmuster innerhalb einer Abwesenheitsposition.
Der Künstler bebildert, bespielt, bewegt. Dabei gelingt es ihm, Ort und Zeit zu überwinden, sie als ein Konstrukt zu entlarven. Er verlässt die Gemeinschaft. Er träumt sich aus dem Gesellschafts/t/raum hinaus. Sprache und Bild lösen sich auf, enden in kryptischer Konvulsion, verlieren Form, Fläche, Farbe und Inhalt. »Auf einmal hatte ich dieses Gefühl der Leerheit, das Gefühl, an jenem Nachmittag mit fünf Jahren, dass ich außerhalb der Zeit sei (Cioran).«
Die Videoprojektion erreicht diese Zustandsform durch die Wiedergabe einer entwurzelten Bilderwelt, deren Orts- und Zeitbezüge vom Betrachter jeweils neu erdacht werden. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, einen Film im Film zu »denken«, der der Projektion nicht hörig ist. Neue Geschichten tun sich auf, da Orte »verwackeln«, sich auflösen und entgegen jeglicher Gravitation im Zustand der Unbestimmbarkeit verharren. Jene Auflösungsmomente erzeugen beim Betrachter ein Spielfeld, auf dem sich Alltagsgeschichten/-orte neu entdecken lassen (Discovery Channel). Die Projektion ist das Medium, der Betrachter die Filmmaschinerie. Der eigentliche Film ist das, was er sich aus dem clash of pictures in seine Traumstation holt.

MDY Or The Process, 2000 · Video, 61 min: M. kann durch Wände gehen, so einfach hindurch. Immer wenn sie durch Wände geht, werden ihre Augen feucht, sie kann nichts dagegen machen. Sie fühlt sich jetzt wie ein Gebirge. Ein Mann kommt auf sie zu. Er kniet vor sie nieder und legt seinen Kopf sanft an ihre Brust. Nur nicht auffallen. Die Uhr tickt viel zu laut. Autos. Draußen. Regen. Die Straßen entlang. Amerika. Eine Menge Gesichter. Radio. Der Präsident spricht, und der Mann hat noch immer seinen Kopf an ihrer Brust. Schatten unter den Bäumen. Der Präsident spricht schon wieder. Auf dem Boulevards Autos. Das Dienstzimmer ist geschlossen. Hinter der nächsten Tür ein Highway, Yosemite, Bishop, Death Valley, Nevada, Arizona. So geht es unentwegt weiter, und immer weiter, Straßen ohne Ende. Ende. »Nimmst du mich mit?« »Wer bist du?« »Ich sammle Blumen.« »Blumen? Das hier ist eine Wüste. Verstehst du, Wüste. Es wird gleich dunkel. Kommst du mit?« »Muss Blumen sammeln.« »Woher kommst du?« »Blumen.«

Die Immanenz der Traumstation ist eine unendliche Quelle epigrammatischer Bebilderung. Sie tritt in Konkurrenz zur »hausgemachten« Bilderflut der Medien und Kunst. Das eigentliche Bild ist nicht das Bild, vielmehr das Bild (des Betrachters) vom Bild. Somit sind Kunst und Medien reine Zulieferer subjektbezogener Eigenbildprozesse, hinter denen kein Konzept, keine Künstlerpersönlichkeit, keine Kunstkritik, keine Filmindustrie stehen. Der eigentliche Künstler und Bildermacher ist der Rezipient. Er füttert das Raster der Bildpunkte. Er ist Adressat und Empfänger zugleich. Nichts geht ohne ihn. Schafft er es, während der Betrachtung in den Wesensort der Abwesenheit einzutreten, hat er gewonnen. Er hat seine Burg verlassen, treibt ohne jeglichen Schutz im Bildermeer, wird zum homeless innerhalb einer postindustriellen Bildmaschinerie. Gleichzeitig ist er der Ambas-sadeur fabulöser Kontemplationen und enterbt die Hybris verbarrikadierter Sichtweisen. Mit der Fliehkraft banaler Tagträume macht sich somit eine Aufbruchstimmung bemerkbar, die dem Konstrukt »Leben« entgegenwirkt. »Wer nicht täglich eine Weile träumt, dem verdunkelt sich der Stern, von dem alle Arbeit und jeder Alltag geführt sein kann (Jaspers).«

Die Heimsuchung durch Träume war in der Philosophie stets eine Erkenntnismöglichkeit (z.B. bei Descartes, Cioran). Aus Wahrnehmung und Deutung kristallisiert eine neue Form der Anwesenheit, die die Phänomene kurzzeitiger Verabschiedung beinhaltet. Kunst und Philo-sophie treten dabei als kongeniale Außen-posten schnelllebiger Gegenwartsgesellschaften auf. Bebilderung, Schauung, Rezeption, Traum, Reflexion sind das Instrumentarium der Vergegenwärtigung im bewegten Raum. Das Ziel ist der Weg - eine Form der Raumschaffung (Heideggers »Lichtung«). »So ist plötzlich ein Objekt erschienen, das mir die Welt gestohlen hat. Alles ist an seinem Platz, alles ist immer noch für mich da, aber alles ist zugleich durch ein unsichtbares und starres Ausfließen zu einem neuen Objekt hingezogen (Sartre).«

Der Mensch scheint verloren (örtlich und zeitlich) ohne die Partnerschaft zwischen Geist, Seele, Körper und Bild. Mit deren Hilfe jedoch, ist er der medialen Welt weit überlegen und kann sich jederzeit der Gegenwart stellen. Die Zauberformel heißt, sich aus dem Geschehen nehmen, um mit der Unberechenbarkeit der Abwesenheit (sehend und träumend) das »Gesellschaftsspiel« neu zu beleben. Durch mein willkürliches Auf- und Abtauchen bleibe ich in Bewegung, schaffe ich Bewegung, und in Bewegung muss ich bleiben, um selbst Teil der Bewegung zu sein. Denn Bewegung steht für Leben.

Und so zeigen sich mir die Städte, Straßen Plätze und Menschen am Vorhof des Westens als Ende der »Wagenburg«. Heimatlos, zwischen den Schluchten der Häuser, wird ein neuer Mensch geboren, ein einsamer Träumer, der unbemerkt in Abwesenheit Geschichten denkt, unweit jener Traumfabrik, die neben ihm blass und verschwommen wirkt. Die Straße ist das Studio, die Kulisse, das Filmtheater. Die Kamera läuft, der Boulevard füllt sich, die Show kann beginnen.

Hier unten am Pazifik wird das Träumen geübt, hier, da jeglicher Zeitbegriff obsolet und unverständlich erscheint. Ich bewege die Film-maschinerie und bemerke nicht, wie die Filmmaschinerie mich bewegt. Ich trete unter Menschen und bemerke nicht, wie Menschen unter mich treten. Ich nehme mich aus dem Spiel, um mich ins Spiel zu bringen. »Außen« und »Innen« machen keinen Unterschied. Ich filme, doch der Film bin ich.


»In diesem Augenblick überfiel mich die Angst oder doch etwas dergleichen; ich konnte nicht verstehen, wie diese behäbigen, dickbäuchigen Häuser solche Wüsten in sich bergen konnten; ... (Sartre).«